Weidgerechtigkeit im Wandel der Zeit

Je weiter unsere Technik voranschreitet, umso bedeutsamer werden schützende Schranken. Die Weidgerechtigkeit – mit Ächtung durch die Gruppe sanktionierend – lässt früher den Rollbalken herunter als das Jagdgesetz. Noch feiner misst das persönliche Gewissen. Die Weidgerechtigkeit ist sozusagen auch das Gewissensgesetz der intakten Jäger.

Veröffentlicht am 31.05.2021

Text: Dr. Michael Sternath | Fotos: Rafael Lapinski, Martin Otto, Karl-Heiz Volkmar

Kaum ein Wort ist in Abhandlungen und Diskussionen über jagdliches Brauchtum, in Aufsätzen über jagdliche Ethik, aber auch in Erzählungen am Stammtisch oder in Jagdzeitungen in den letzten Jahrzehnten so häufig strapaziert worden, wie das Wort «weidgerecht». Auch in unseren Jagdgesetzen findet sich der Begriff. Ellenlange Definitionen wurden von Juristen, Jagdpraktikern, Ethikern, Biologen und Philosophen geboren. Zurückgeblieben sind die meisten mit recht leeren Händen. Sie haben stets versucht, das Ewiggültige, das zeitlos Wahre in dem Begriff zu finden.

Trotzdem haben es nach der Fehlsuche nur die Verwegensten unter den Suchenden gewagt, an dem zu zweifeln, was sie vergeblich zu greifen suchten. Warum aber dann das zähe Festhalten der Jäger an dem Gespenst «Weidgerechtigkeit», das offensichtlich so schwer zu fassen und dennoch ohne Zweifel von irgendeiner Bedeutung ist? – Eines möchte ich von Beginn an klarstellen: Hier soll kein neuer Anlauf auf eine exakte Definition der Weidgerechtigkeit gemacht werden. Hier wird es nicht darum gehen, die Kanten des Begriffes an seinen Rändern exakt auszuloten. Das Ziel ist viel bescheidener und bloss: zurückzublicken und sich anzusehen, von wo der «weidgerechte Jäger» in der Geschichte daherkommt, wo er hingeht und wie er heute ungefähr aussehen mag.

Blick zurück

Wenn einem ein Begriff oder eine Sache nicht ganz klar ist, so ist fast immer ein Blick zurück zu den Wurzeln erhellend. Bis zum Steinzeitjäger brauchen wir beim Begriff der Weidgerechtigkeit nicht zurückgehen. Der Steinzeitjäger wird sich nicht viel um Weidgerechtigkeit geschert haben. Wenn er ein Rehkitz fand und sich dessen bemächtigen konnte, wird er ihm kurzerhand den Kragen umgedreht haben. So rasch und wirksam wie möglich Beute machen, das wird damals die Devise gewesen sein. Es ging ums Überleben. Für Gefühlsduseleien ist da kein Platz. Es gab keine Schranken, ausser jenen, die die Natur gesetzt hat.

Überhaupt: Beim Blick zurück in die Geschichte wird man überrascht feststellen, dass der Ausdruck «weidgerecht» gar nicht so alt ist, wie man vielleicht vermuten mag. Erst vor gut zweihundert Jahren, am Anfang des 19. Jahrhunderts, taucht der «weidgerechte Jäger» am Horizont auf und löst nach und nach das «waidmanische Jagen» eines Martin Strasser von Kollnitz ab, des fürsterzbischöflichen Salzburger Jägermeisters um 1700. Es lohnt, glaube ich, sich seine Verwendung des Wortes «waidmanisch» etwas genauer anzusehen, und umso mehr, als wir heute noch die Verneinung des «Waidmanischen», «unweidmännisch», in seiner Bedeutung sehr nahe an die Zuschreibung «nicht weidgerecht» heranrücken.

«Waidmanisch» – ein Vorgängermodell der Weidgerechtigkeit

Das Prädikat «waidmanisch» wurde im 17. Jahrhundert verliehen, wenn eine nach den Regeln der Jagdkunst – der «ars venandi» – durchgeführte Jagd erfolgreich verlaufen war. Ein Zufallserfolg – ohne Beobachtung der Regeln jagdlichen Handwerkskunst – war nicht «waidmanisch», auch nicht eine schlecht organisierte Jagd. Kurz: Man musste sein Handwerk verstehen, um «waidmanisch» zu jagen. Weidmännisch handelte, wer sein jagdliches Können unter Beweis stellte. Das war aber erst die eine Seite der Medaille. Die zweite Seite «waidmanischen» Handelns war, dass der Jäger ein Höchstmass an Nutzen für den Menschen anstreben musste. Eine grosse Strecke, die dank guter Planung und Organisation einer Jagd zustande kam, galt als weidmännisch. Hier liegt auch der Schlüssel zum Verständnis der für uns so unappetitlich wirkenden Massenstrecken höfischer Jagden, die bis ins 20. Jahrhundert, bis zum Erzherzog Franz Ferdinand hereinreichen. Sie waren nach der damaligen Einschätzung durchaus in Ordnung: aufgrund der jagdlichen Kunst und dem erzielten Ertrag. Ein jagdliches Himmelfahrtskommando hingegen, eine Drückjagd etwa ohne Vorsuche mit dem Leithund, vergeudete bloss Kosten, Zeit und Mühe und war daher unweidmännisch. Ein spannendes Detail am Rande: Strasser verurteilte aufs Schärfste die gewöhnliche Fallenjagd – also Knüppelfallen und Schlingen –, hiess aber den Fang im eigens eingerichteten Fanggarten gut, weil für Letzteres durchaus hohes jagdliches Können vonnöten war. Gewöhnliche Fallen könnten hingegen von jedem Bauern, Hirten oder Viehdieb aufgestellt werden und seien «asjägerisch» und «gar nit waidmanisch, sonder vilmehr schinterisch und eine unwaidmanische Invention», meinte Strasser.

Halten wir uns kurz noch auf bei der Strasserschen Forderung, dass weidmännisches Verhalten ein Höchstmass an Nutzen für den Menschen haben müsse. Diese Einstellung nämlich zeichnete damals verantwortlich dafür, dass es Jagd- und Schonzeiten gab. Den Dachs etwa sollte man weidmännisch nur in den Monaten September/Oktober fangen, wenn er am besten verwertbar war, wenn also das Wildbret gut und das Schmalz angesetzt war. Die Jagd auf männliches Rotwild fing relativ früh im Jahr an, im Gegensatz zum weiblichen Rotwild. Die Erlegung von Kolbenhirschen war für den damaligen Jäger kein Problem, da man einem ausgereiften Geweih kaum Bedeutung beimass, von seinem wirtschaftlichen Wert einmal abgesehen, und da man die weichen Bastkolben als Delikatesse schätzte, aus denen man etwa wohlschmeckende Salate zubereitete. Führende und tragende Tiere schonte man hingegen, allerdings aus einer anderen Motivation heraus als heute: Nicht um seiner selbst willen war das Muttertier schutzbedürftig, sondern es spielten dabei vor allem Nützlichkeitsüberlegungen eine Rolle: Das heranwachsende Leben würde später einmal mehr wert sein.

«Weidmännisches Verhalten» schloss auch den Schutz des tierischen Jagdgehilfen ein – also Jagdhund und Beizvogel. Einem Jagdhund etwa, der im Hochgebirge beim Verfolgen des Wildes in Gefahr geraten war, dem musste der Jäger zu Hilfe kommen: andernfalls wäre der Hund in Verlust geraten und so ein wirtschaftlicher Schaden entstanden. Wiederum sind hier Nutzenüberlegungen im Vordergrund und nicht etwa der Eigenwert des Tieres.

Noch zwei Beispiele: Rebhühner zu fangen war «waidmanisch», der Schrotschuss – den es damals schon gab – hingegen nicht. Beim Gams empfahl Strasser das – für den Jäger hochgefährliche – Ausseilen aus der Wand anstatt des Auswerfens, Ausstechens oder Ausschiessens. In beiden Fällen war der Grund derselbe: dass die «waidmanischen» Varianten wildbretschonender waren.

Am Rande sei noch erwähnt, dass das jagdliche Brauchtum in Strassers Tagen – also um 1700 – wenn überhaupt, dann nur beim Hirsch eine Rolle spielte, und da auch nur eine untergeordnete.

Soweit ein paar Beispiele dafür, was man vor drei-, vierhundert Jahren als «waidmanisch» angesehen hat und was als unweidmännisch erachtet wurde. «Waidmanisch» bedeutete «nach Art des gelernten Jägers». Nützlichkeitsüberlegungen standen dabei ganz weit im Vordergrund. Man darf dabei jedoch nicht den Fehler machen, «waidmanisch» mit unserem heutigen «weidgerecht» völlig gleichzusetzen. Aber ein Näherungswert war es schon, ein Näherungswert für das, was ein guter Jäger tun sollte und tun durfte, und was nicht.

«Weidgerecht»

Drehen wir nun das Rad der Zeit wieder etwas weiter nach vorn, so an die hundert Jahre, genauer gesagt: ins Jahr 1812. Da skizziert Georg Ludwig Hartig, Direktor des Forst- und Jagd-Lehr-Institutes zu Stuttgart, die Jagd – und damit indirekt den guten, den weidgerechten Jäger – folgendermassen:

«Die Jägerey ist eine Wissenschaft, welche zum Gegenstand hat: die schädlichen wilden Tiere auf eine geschickte Art zu vermindern oder ganz zu vertilgen, hingegen nützliches Wild zu erziehen, gegen nachtheilige Ereignisse zu beschützen, kunstmässig zu fangen oder zu erlegen, und bestmöglich zu benutzen.»

«Kunstmässig zu erlegen und bestmöglich zu benutzen» – wir sehen, wie nahe wir da noch beim alten Begriff des «Waidmanischen» sind. Strasser und das 17. Jahrhundert lassen grüssen!

Ebenfalls um 1800 schreibt Heinrich Wilhelm Döbel in seinem in Leipzig erschienenen Buch «Jagdpractica» darüber, wie ein gelungener Jäger aussehen sollte:

«Der Jäger muss hirsch-, jagd-, holz- und forstgerecht sein, gottesfürchtig und fromm, treu und redlich gegen seinen Herrn, vorsichtig, verständig, klug, wachsam und munter, unverdrossen, aufgeweckt, entschlossen, unerschrocken und von guter Leibeskonstitution, muss Liebe zu den Hunden haben und auch gutes und reichliches Gewehr halten.»

Hier drängt sich neben dem handwerklichen Aspekt und dem Nutzenaspekt auf einmal ganz deutlich auch ein moralischer Aspekt ins Bild herein. Der «treue, redliche, wache, aufgeweckte» Jäger wird gefordert, der Liebe zu seinem Hund hat, und ihn nicht nur aus Nutzenüberlegungen heraus beschützt. Darüber hinaus finden wir hier die Worte «hirschgerecht», «jagdgerecht», «holzgerecht» und «forstgerecht». «„Gerecht» wird hier im Sinne von «kundig» verwendet. Von da an ist es nur mehr ein kleiner Sprung dazu, diese Eigenschaften eines vollwertigen Jägers – Charakterfestigkeit, Liebe zum Tier, Kompetenz in Sachen Natur, Wild und Wald und jagdhandwerkliches Können – zusammenzufassen im Wort «weidgerecht», und das hat man dann in der Folge auch getan. Der Wortteil «weid» bedeutete dabei nichts anderes als «Jagd» – wir kennen diese Bedeutung heute noch etwa in der Fischweid – und der Wortteil «gerecht» bedeutete «kundig». «Weidgerecht» bedeutete also ursprünglich lediglich «jagdkundig».

Moral geht vor Handwerk

Was allerdings dann im Lauf des 19. und viel mehr noch im 20. Jahrhundert passiert ist, war: dass der moralische Aspekt mehr und mehr nach vorn und der handwerkliche Aspekt nach hinten trat in der Verwendung des Wortes «weidgerecht». Döbel hatte schon von der «Liebe zu den Hunden» gesprochen, die der Jäger haben müsse. Früher waren es noch Nützlichkeitsüberlegungen gewesen, die ein Achtgeben auf die Jagdhunde erforderte. Nicht nur die «Liebe» zu den Hunden war ungewohnt, auch dass die Menschen mehr und mehr Mitgefühl mit Tieren bekamen. Nach und nach rückte damit im Verlauf des 20. Jahrhunderts das Vermeiden von Tierleid in den Mittelpunkt des Verständnisses von «Weidgerechtigkeit». Tellereisen wurden als Fanggeräte verboten, die Verwendung von Gift wurde verboten, tierquälerische Hundeabrichtemethoden gerieten zunehmend in Verruf, Jagdarten wie die Parforcejagd fielen der Ächtung anheim, die Notzeitfütterung wurde mehr und mehr zur Forderung an den weidgerechten Jäger, die Hege wurde landauf, landab in den höchsten Tönen besungen, und vieles andere mehr. Radikal zu Ende gedacht hat diese Entwicklung, die «Weidgerechtigkeit» schon fast mit «Tierleid vermeiden» gleichsetzt, der glänzende rätoromanische Schriftsteller, Jäger und ehemalige Alphirte Leo Tuor in seinem vor wenigen Jahren erschienenen grossartigen Buch «Settembrini. Leben und Meinungen». Zitat daraus: «Sieh zu, dass das Tier nicht leidet. Den Rest mach mit dir selber aus.»

Gesetz und Weidgerechtigkeit

Bevor wir uns den weidgerechten Jäger unserer Tage ansehen, noch ein paar Worte zum Verhältnis zwischen Gesetz und Weidgerechtigkeit. Im Allgemeinen wird ja das Zusammenleben von Menschen durch Gesetze geregelt. Diese sind schriftlich niedergelegt. Gesetze sind aber nicht der einzige Massstab, der unseren Handlungen grünes oder rotes Licht gibt. Es gibt auch so etwas wie einen «inneren Bezirk». Das sind zum Beispiel die Verhaltensregeln einer Gruppe und, darüber hinaus, das persönliche Gewissen eines jeden Einzelnen. Dieser «innere Bezirk» ist meist nicht schriftlich niedergelegt; und er misst feiner als das geschriebene Gesetz. Wo das Gesetz die Strafe kennt, sanktioniert der innere Bezirk entweder mit Ächtung durch die anderen Gruppenmitglieder oder – beim Einzelnen – durch ein schlechtes Gewissen.

Genau auf diesen «inneren Bezirk» – die ungeschriebenen Regeln der Gruppe – zielt die Weidgerechtigkeit. Früher fiel jener Jäger der Ächtung anheim, der die Regeln der Jagdkunst, also das Handwerkliche, nicht beachtete oder beherrschte – Stichwort: Sonntagsjäger – bzw. Ressourcen ungenutzt verschleuderte. Und was sanktioniert die heutige Jägergesellschaft, was sanktioniert das persönliche Gewissen?

Weidgerechtigkeit heute

Am besten wird einem das heutige Verständnis von «Weidgerechtigkeit» klar, wenn man dem Jägervolk aufs Maul schaut. Wann sagen die Jäger, der oder die jage «weidgerecht» oder «nicht weidgerecht»? – Ein paar konkrete Beispiele unweidgerechten Handelns:

  • Der russische Gamsschlächter, der den krankgeschossenen, nicht verendeten Gams an der Krucke übers Geröllfeld schleift, löste nicht nur in der Bevölkerung Empörung aus, sondern auch bei den Jägern.
    Ein führendes Stück zu erlegen, ohne vorher Kalb oder Kitz erlegt zu haben, wird heute – Gott sei Dank – von den meisten Jägern immer noch als in höchstem Masse unweidgerecht angesehen.
    Ein durch unsachgemäss aufgestellte Fallen verkrüppeltes Tier löst wohl bei jedem Jäger Abwehrreflex und Betroffenheit und Abscheu aus.
  • Fahrlässiges Weitschiessen oder ein dem beschossenen Wild nicht angemessenes Kaliber oder überhaupt ein fahrlässiges In-Kauf-Nehmen von Tierleid ist ein absolutes No-go unter heutigen Jägern. Den früher einmal recht gängigen Satz «Nicht geschossen ist auch gefehlt» wird man heute aus einem Jägermund nicht mehr hören.
    Wildbret liegen zu lassen oder auch fahrlässig verderben zu lassen löst Ächtung aus, ebenso «Massenmorde» in Ungarn oder sonst wo, Aussetzen von lebenden Flugzielen, die mit einem in der Natur gewachsenen Fasan nur mehr rudimentäre Ähnlichkeit haben usw. usf.
  • Einem Jäger, der nicht gut auf seinen Hund schaut, wird ebenfalls rasch die jagdliche Anerkennung entzogen.

Aus dieser Aufzählung lässt sich unschwer erkennen: Fast alle Punkte haben mit der Vermeidung von Tierleid zu tun. Das passt auch gut zusammen mit der Entwicklung des Stellenwertes der Tiere in unserem gesellschaftlichen Gesamtgefüge: Die Tiere sind im Lauf der letzten hundert Jahre in der Stufenleiter der Wertschätzung immer höher hinaufgeklettert.

Was unser Verständnis des Wortes «Weidgerechtigkeit» bzw. des rechten Weidmannes betrifft, so erkennt man ebenso unschwer: Es hat sich im Lauf der letzten Jahrhunderte eine Verschiebung vom Handwerklichen hin zum Moralischen ergeben, mit Schwerpunkt Vermeidung von Tierleid und, damit verbunden: mit Selbstbeschränkung. Diese Verschiebung erfolgte mit gutem Grund, weil: Früher war der Mensch nicht in der Lage, Natur ernsthaft zu gefährden. Die Natur gefährdete vielmehr ihn. Durch die rasante Entwicklung unserer Technik und Techniken ist der Mensch heute – im Gegensatz zu früher – sehr wohl in der Lage, die Natur zu gefährden. Nicht alle seine Möglichkeiten auszuschöpfen, erfordert Selbstbeschränkung.

Selbstbeschränkung

Und da sind wir bei einem ganz zentralen Punkt der Weidgerechtigkeit angelangt. Weidgerecht jagen heisst heute vor allem, sich selbst zu beschränken: den Schuss auf 350 Meter nicht zu tun; den zweiten Hirsch des Morgens zu pardonieren, auch wenn man ihn frei hätte; nicht zu jagen, wenn der Schnee anderthalb Meter hoch liegt und das Wild kaum mehr weiterkommt, der Mensch aber aufgrund seiner technischen Möglichkeiten schon; nicht in das hundert Häupter starke Gamsrudel hineinzuhalten und alles in Panik und Aufruhr zu versetzen; nicht auch das zweite starke Murmel noch vom selben Bau wegzuschiessen, wenn man weiss, dass dann die restliche Murmelfamilie im Winterschlaf erfriert; nicht seine Wildbestände auf Teufel komm raus «aufhegen».

Schützende Schranken

Um zusammenzufassen: Je weiter unsere Technik voranschreitet, umso bedeutsamer werden schützende Schranken. Die Weidgerechtigkeit – mit Ächtung durch die Gruppe sanktionierend – lässt früher den Rollbalken herunter als das Jagdgesetz. Noch feiner misst das persönliche Gewissen. Die Weidgerechtigkeit ist sozusagen auch das Gewissensgesetz der intakten Jäger. Und das ist von eminenter Bedeutung, denn der Jäger ist bei der Jagd oft allein. Niemand sieht ihn. Niemand kontrolliert ihn und seine naturgegebene Gier des Habenwollens. Er trägt hier eine unglaubliche Verantwortung. Er muss zu seiner Gier «nein» sagen können. Das, was zu ihm «nein» sagt, ist vor allem sein persönliches Gewissen. Es ist die Weidgerechtigkeit. Es hat Jäger gegeben, die aufgrund der Unschärfe und Wandlungsfähigkeit der Weidgerechtigkeit den Sinn abgesprochen haben. Das halte ich für falsch. In meinen Augen kommt ihr heute, da wir Natur mit unseren technischen Möglichkeiten schwer in Mitleidenschaft ziehen können, sogar noch viel mehr Bedeutung zu als früher: als Instanz des Gewissens, die den Spielraum des Jägers enger macht als das Gesetz.

Jagd als Schule des Lebens

Jagd – und ich meine da nur die bodenständige Jagd eines Volljägers, der sein Wild selbst aufspüren, erlegen und in Besitz nehmen kann – kann eine Schule des Lebens sein. Gerade in einer Zeit, in der neoliberale Grundsätze unser Leben beherrschen, wo Rabattsammeln und Schnäppchenjagen zur Lieblingsbeschäftigung vieler Menschen geworden ist, wo in einem ausgeklügelten System mit der naturgegebenen Gier des Menschen – höchst erfolgreich – gespielt wird, da hat der Jäger ein Privileg: Er kann und muss sich bei seinem Jagen ständig in Selbstbeschränkung üben: «nein» zu sagen zu seiner Gier, nicht jeder Verlockung erliegen, sich selbst beherrschen. Nicht im Wildbret, nicht im Regulieren von Wildbeständen sehe ich die vornehmste Begründung von Jagd, sondern vor allem darin, Schule fürs Leben zu sein, sich zurücknehmen zu lernen. Der weidgerechte Jäger ist der Jäger, der sich zurücknehmen kann. Er kann darin Beispiel und Vorbild für eine Gesellschaft sein, die ihre Massstäbe und ihre Mitte verloren hat.

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