Hirschbrunft – eine elektrisierende Zeit

Während der Hirschbrunft hallt das eindrückliche Röhren der Hirsche durch die Wälder und Täler. Doch es braucht weit mehr, damit ein Stier ein Rudel zusammenhalten kann.

Veröffentlicht am 25.09.2023

An einem kalten Septembermorgen sass ich auf einem öfter aufgesuchten Beobachtungsposten. Langsam wich die Nacht. Zu meinem Ärger musste ich bald feststellen, dass sich im Talgrund ein dünner Schleier rasch zu einer Nebelbank verdichtete. Nach wenigen Minuten hüllten mich die grauen Schwaden ein und verwischten die sich schwach abzeichnenden Konturen der Umgebung. Aber für einmal zeigten sich die Götter gnädig. Nach einer knappen Stunde begann der Nebel, auf und ab zu wallen, riss auf und gab den Blick frei auf die andere Talseite, die bereits in das goldene Licht der Morgensonne getaucht war. Mir direkt gegenüber halbierte ein Lawinenzug den Legföhrengürtel, und mittendrin, auf einer Steinstufe, stand ein starker Hirsch. Jetzt reckte er sein gekröntes Haupt hoch in den Himmel, legte das Geweih auf den Rücken und stiess einen lang gezogenen Schrei aus. Noch zweimal röhrte er aus vollem Hals, schaute um sich und sprang schwerfällig von seiner Kanzel hinunter. Dann drang er in die Latschen ein und trieb eine Kuh mit ihrem Kalb aus dem Dickicht ins Freie. Gewandt, fast tänzerisch entzog sie sich seinen wiederholten Avancen, nässte und führte ihr Kalb höher hinauf. Der Hirsch inspizierte die kleine Pfütze, hob das Haupt und flehmte. Kein Zweifel: Die Brunft hatte begonnen, zumindest für diesen Geweihten und seine widerspenstige Gespielin.

Im offenen Gelände bilden sich grosse Rudel. (Bild: Martin Merker)

Vom Waldgeist zum Haremswächter

Noch hatte der Hochzeiter seine für die Paarungszeit angelegten Fettdepots kaum angetastet und strotzte vor Kraft. In den Hochsommertagen ändert der Hirsch sein Aussehen. Aus einem wohlgenährten, mit Rundungen versehenen, trägen Waldgeist mit schlankem Haupt auf dünnem Hals und durchhängender Bauchlinie wird in wenigen Wochen ein mit Muskeln bepackter Kämpfer, ein strenger Haremswächter und ein unermüdlicher Liebhaber. Am eindrücklichsten zeigen sich die Veränderungen am Träger, der durch starkes Muskelwachstum eine beträchtliche Umfangsvermehrung erfahren hat und mit einer dichten Mähne einen zusätzlichen Akzent setzt. Die beim erwachsenen Hirsch oft vorhandenen, dunklen Stirnlocken im Verbund mit den hellen und dunkleren Fellpartien fügen sich zu einer Maske, die ein mürrisches Wesen ihres Trägers vortäuscht.

Die Phasen der Brunft

In den Bündner Alpen fällt der Brunftbeginn je nach Höhenlage, Wilddichte und der Zusammensetzung der Rudel nach Alter und Geschlecht in einen Zeitraum von Anfang September bis Ende Monat. Das Paarungsgeschehen wird durch die sich ändernden Tag- und Nachtlängen ausgelöst und von Geschlechtshormonen gesteuert.

Als Erste treten die reifen Stiere in die Brunft und wandern zu ihren teilweise weit entfernt liegenden Brunftplätzen. Elf Monate haben sie geschwiegen. Jetzt haben sie ihre Stimme wiedergefunden. Wie Standbilder stehen sie auf Kuppen, Rippen und Graten und röhren aus vollem Hals. Auf diese Weise geben sie ihren Rivalen bekannt, dass sie den einen bestimmten Brunftplatz besetzt haben und dass mit ihnen zu rechnen ist. Wo die Vegetation und die Topografie den Sichtkontakt verunmöglichen, finden Rivalen durch ihr Röhren zueinander. Diese ersten akustischen Duelle, die verschiedenen Formen des Imponierens, sexuelle Ersatzhandlungen wie das zum Ejakulieren und zur Bildung des Brunftflecks führende Bodenforkeln und das Fechten mit Ästen finden ohne eine Beteiligung des Kahlwildes statt. Dieser Zeitabschnitt wird Vorbrunft genannt. Nach ein paar Tagen verstummen die Sänger wieder, um dann, zwei Wochen später, nach einem erneuten Ansteigen des Testosterons, als wesentliches Element der Brunft die Begleitmusik zu liefern. Im Schweizerischen Nationalpark verbringen mehr als 500 Stück Rotwild den Sommer in einem Seitental des Engadins. Der leichte Überhang an männlichen Tieren weist einen hohen Anteil an reifen Geweihträgern auf. Das garantiert einen zügigen Verlauf der Brunft. Die Unterteilung der Fortpflanzungszeit in eine Vorbrunft und in die eigentliche Brunft hat fliessende Übergänge. Der Höhepunkt wird im Nationalpark unter normalen Bedingungen am 26. September erreicht. Den frühesten Deckakt konnte ich am 9. September beobachten. Mit etwa sechs Jahren ist ein Hirsch erwachsen und tritt ins Reifealter. Um ein Rudel zusammen zu halten, braucht es Erfahrung, Durchsetzungsvermögen, Kraft und ein ausgefeiltes Werbezeremoniell, um den Damenflor zu überzeugen, dass man der Richtige sei. Viel Energie verpufft beim Kämpfen mit Rivalen und beim Vertreiben von Beihirschen und Schneidern. Ein Platzhirsch muss immer wieder prüfen, ob der Eisprung bei dieser oder jener Hirschkuh bevorsteht, um rechtzeitig handeln zu können. Die Weibchen dulden den Körperkontakt nur während weniger Stunden. All diese Aktivitäten lassen den Platzhirschen kaum Zeit zum Äsen. Viele kleinere Brunftplätze liegen in unwegsamen, steilen, mit Felsbrocken durchsetzten Bergwaldparzellen, in verfilzten Latschenbeeten und Dickichten. Im Jagdgebiet ziehen sich die Roten oft in höher liegende Tageseinstände zurück und stellen sich nachts auf den flacheren Talwiesen ein. In nicht bejagten Gebieten versammeln sich manchmal grosse Rudel und bleiben auch tagsüber im offenen Gelände.

Unterschiedliche Lautäusserungen

Ein Mittel, um einem Nebenbuhler den Schneid abzukaufen, ist das Duell mit dem Stimmorgan. Jüngere Hirsche räumen das Feld, wenn ein Senior mit dröhnendem Bass loslegt. Vollreife Stiere verfügen über einen grossen Brustkasten als Resonanzkörper und über die nötige Muskulatur, um die Luft durch die Kehle zu pressen. So ein Sängerwettstreit kann sich über Stunden hinziehen, bis einer klein beigibt. Fantasievolle Hirschflüsterer lesen alles Mögliche aus den Lauten, die sie vernehmen. Man kann die Lautäusserungen in zwei Gruppen unterteilen: 1. Laute bei Begegnungen und Interaktionen mit Kahlwild und anderen Stieren, 2. Laute von Einzelgängern, etwa das behagliche Brummen eines Hirsches im Bett, das lang gezogene Rufen des suchenden Hirsches, das laute Röhren als akustische Markierung eines Brunftplatzes und als Selbstanpreisung. Bei Interaktionen: das werbende, halblaute Röhren eines Stiers, der eine Kuh bewacht; das abgehackte Stakkato des Sprengrufs hinter einem fliehenden Stier her und beim Treiben eines Tieres, kurze laute Schreie beim Imponieren. Alte Hirsche sind meist Bassisten und melden sparsamer. Am häufigsten lassen sich die etwa Zehnjährigen hören. Bittere Erfahrungen haben das Rotwild im Jagdgebiet gelehrt, dass Röhren am Tag gefährlich ist und Jäger anlockt.

Er röhrte herausfordernd ins Rund. (Bild: Martin Merker)

Paraden

Wo mehrere alte Hirsche ihre Gene vererben möchten, kommt es unter Ebenbürtigen nicht selten zu einem Waffengang. Vorgängig versuchen die Rivalen mit allerlei Tricks, den Gegner einzuschu?chtern. Man macht sich möglichst gross, spiesst Erdklumpen auf und schleudert sie in die Luft, kämpft mit federnden Ästen und schachtet die zuckende Brunftrute aus. Beim lauten Röhren schwingt ein aggressiver Unterton mit. Wenn all das nichts fruchtet, führt manchmal ein Imponiermarsch zum Ziel. Nahe beisammen schreiten die Kontrahenten lauernd nebeneinanderher, ohne sich direkt in die Augen zu blicken. Oft gehen sie mehrmals auf und ab, Abrupt machen sie eine Vierteldrehung aufeinander zu und knallen mit den Geweihen zusammen. Dann setzen sie ihre Parade fort oder verhaken die sperrige Wehr ineinander und versuchen, sich unter Aufbietung aller Kraft gegenseitig wegzuschieben. Dazu wird auch der Rücken wie eine gespannte Blattfeder aufgewölbt.

Zwischendurch lösen sich die Kämpfer, um dann erneut zusammenzufahren. An einem steilen Hang haben diese Manöver ihre Tücken, insbesondere wenn auf dem Kampfplatz Wacholder, Alpenrosen und grobe Steine die Bewegung behindern. Forkelstiche können sofort töten oder zu einem späteren Zeitpunkt durch eine Bauchfellentzündung zum Tod führen.

Elektrisierende Wirkung

Das Zusammenspiel von akustischen, optischen und geruchlichen Reizen verfehlt seinen stimulierenden Einfluss nicht und bringt die weiblichen Tiere allmählich in Paarungslaune. Das Belcanto der Stiere, ihr Werben, die betörenden Düfte und Gerüche und das ganze aufregende Geschehen wirken elektrisierend. Pheromone synchronisieren den Eisprung, was dafür sorgt, dass nicht selten mehrere Tiere gleichzeitig brunftig werden. Nässt ein Stück, versucht der Platzhirsch, das Geschlechtzu beschnüffeln und zu lecken. Mit der Atemluft werden feinste Urintröpfchen eingeatmet und die Geruchsstoffe in einem Organ im Gaumen analysiert. Eine veränderte Zusammensetzung der Hormone warnt den Hirsch, dass der Eisprung bevorsteht. Jetzt ist das weibliche Tier bereit zur Paarung und duldet den Körperkontakt. Es signalisiert dies durch den waagrecht gehaltenen Wedel und die krummrückige Haltung. Es weicht dem Begleiter nicht mehr aus und lässt ihn aufreiten. Wird eine Hirschkuh nicht beim ersten Eisprung befruchtet, wird sie nach drei Wochen erneut brunftig.

Nach zwei Wochen sind die Platzhirsche am Ende ihrer Kräfte angelangt und haben bis zu 30 Kilogramm ihres Gewichtes eingebüsst. Sie überlassen das Feld den jüngeren Bewerbern und versuchen, den Gewichtsverlust wettzumachen bevor der Winter einbricht.

Text: Martin Merker
Hauptbild: Martin Merker

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